Türkenkriege bis zum Vorabend des Krimkriegs: Zusammenprall von Abendland und Morgenland

Türkenkriege bis zum Vorabend des Krimkriegs: Zusammenprall von Abendland und Morgenland
Türkenkriege bis zum Vorabend des Krimkriegs: Zusammenprall von Abendland und Morgenland
 
Die erfolgreichen Eroberungszüge der Osmanen auf der Balkanhalbinsel während des 14. und 15. Jahrhunderts hatten einen Großteil der christlichen Balkanvölker unter die Botmäßigkeit eines islamischen Oberherrn gezwungen. Der Fall Konstantinopels am 29. Mai 1453 löschte eine tausendjährige christliche Kaiserherrschaft am Bosporus aus und beendete die bisherige wirtschaftliche Vorrangstellung der italienischen Seestädte, allen voran der Markusrepublik Venedig, im östlichen Mittelmeerraum. Der Zugang zum Schwarzen Meer blieb seit dem Ende des 15. Jahrhunderts über drei Jahrhunderte für christliche Handelsschiffe gesperrt. Die Türkengefahr wurde zeitweise zu einer ernsthaften Bedrohung der christlich-abendländischen Staatengemeinschaft. 1529 erschienen die Türken erstmals vor Wien und bedrohten die kaiserliche Residenz.
 
Der unselige Kampf um die Nachfolge in Ungarn lähmte die Verteidigungsanstrengungen. Erzherzog Ferdinand, dem Bruder Karls V., gelang es als Landfremdem nicht, den Erbvertrag des Jahres 1515 mit der litauisch-polnischen Dynastie der Jagiellonen einzulösen. Der widerspenstige ungarische Kleinadel bevorzugte den Woiwoden von Siebenbürgen Johann Zápolya. Als König Johann I. behauptete er sich mit türkischer Waffenhilfe bis zu seinem Tode 1540 in der Osthälfte Ungarns. 1541 rückte eine türkische Besatzung in die königliche Residenz Buda ein. Ganz Siebenbürgen wurde zu einem osmanischen Vasallenstaat, und der Habsburger Ferdinand musste sich als gewählter ungarischer König mit einem schmalen Gebietsstreifen im Norden und Nordwesten begnügen. Neue Hauptstadt dieses »Königlichen Ungarn« blieb bis zum Jahre 1848 Preßburg. Während es in den folgenden Jahrzehnten bedeutende Herrscherpersönlichkeiten wie István Báthory (1571—76), der spätere polnische König Stephan IV., oder Gabriel Bethlen von Iktár (1613—29) und Georg I. Rákóczi (1630—48) verstanden, als Woiwoden von Siebenbürgen mit einer geschickten Schaukelpolitik zwischen den Mächten eine gewisse Eigenständigkeit zu behaupten, sahen sich die Habsburger in einen ständigen Kleinkrieg an der Demarkationslinie zum osmanischen Machtbereich verwickelt.
 
 Türkenfurcht und Grenzverteidigung
 
Die Bewohner der innerösterreichischen Lande hatten sich schon seit Anfang des 15. Jahrhunderts immer wieder überraschender Vorstöße türkischer Reitertrupps zu erwehren. Diese gefürchteten »Renner und Brenner« — auch »Sackmannen« genannt — gingen mit unerhörter Grausamkeit vor. Mit schmählichen Tributzahlungen musste ein labiler Waffenstillstand erkauft werden. Die habsburgischen Kaiser taten sich aus reichsrechtlichen Gründen schwer, für die Verteidigung ihrer Hausmachtinteressen eine dauerhafte Türkenhilfe im Reich zu mobilisieren. Die mangelhafte Grenzsicherung sorgte für erhebliche Unruhe unter den Bauern in Kärnten, der Krain und in der Steiermark, sodass die Stände bereit waren, das Landesdefensionswesen (die Landesverteidigung), das in der Verfügungsgewalt des Herrschers lag, zu stärken. Während der Kaiser unter dem Druck der türkischen Bedrohung gezwungen war, im Reich einer schrittweisen rechtlichen Gleichstellung der protestantischen Stände zuzustimmen gemäß dem zeitgenössischen Spruch: »Der Türke ist der Lutherischen Glück«, gewann er als Kriegsherr an der Türkenfront an Macht. Die Errichtung eines zweiten Hofkriegsrates in Graz 1578, nur wenige Jahre nach der Schaffung des Hofkriegsrates 1556 in Wien, war eine von den Landständen initiierte administrative Neuerung, die Teil eines umfassenderen Reformwerkes, des »Brucker Libell«, war. Die neu errichtete zentrale Militärverwaltungsbehörde in Graz erleichterte eine bessere Koordinierung der Verteidigungsanstrengungen.
 
Am Aufbau einer »Militärgrenze« in Kroatien und Slawonien waren Balkanflüchtlinge meist orthodoxer Konfession beteiligt. Sie wurden in grenznahen wehrdorfartigen Siedlungen seit den 30er- Jahren des 16. Jahrhunderts angesiedelt und als Wehrbauern mit der Grenzsicherung betraut. Auch die während des »Langen Türkenkrieges« (1593—1606) über die Grenze gewechselten zahlreichen Walachenfamilien wurden zu Grenz- und Wachdiensten eingesetzt. Die Habsburger waren allerdings erst Anfang des 17. Jahrhunderts in der Lage, eine aktivere Rolle an der Türkenfront zu übernehmen.
 
Koalitionsabsprachen unter den europäischen Mächten ebneten den Weg zu einer Einheitsfront, in die sich immer mehr christliche Staaten einreihten. Zur Unterstützung der Venezianer, die 1570 ihren Vorposten im östlichen Mittelmeer auf Zypern räumen mussten, hatten sich Spanien und der Papst an der Ausrüstung eines Flottenunternehmens beteiligt. Dieser Heiligen Liga gelang am 7. Oktober 1571 unter der Führung von Don Juan d'Austria bei Lepanto ein erster großer Seesieg über die Türken, an den das 1572 eingeführte Rosenkranzfest in der katholischen Kirche noch erinnert.
 
Eine nachhaltigere Erschütterung der osmanischen Militärmacht brachte jedoch erst der »Lange Türkenkrieg«. Eingeleitet hatte ihn Kaiser Rudolf II. 1593 mit dem Entsatz von Sissek (Sisak) und der Vernichtung des türkischen Belagerungsheeres unter Hasan Pascha von Bosnien. Dem Rachefeldzug des Sultans stellte sich eine christliche Verteidigungsallianz entgegen, an der sich die Reichsstände, der Papst, Spanien und Polen beteiligten und der sich auch Siebenbürgen und die Hospodare (Fürsten) der Walachei und der Moldau anschlossen. Im Gegensatz zu den verbündeten siebenbürgisch-walachischen Truppen, die nach erfolgreichen Abwehrschlachten das walachische Territorium freikämpften, erlitten die Kaiserlichen am 26. Oktober 1597 bei Mezőkeresztes eine vernichtende Niederlage. Es begann ein langjähriger Kleinkrieg, der für beide Seiten unerwartete zusätzliche Gefahren heraufbeschwor. Die Osmanen hatten sich im Osten der Angriffe des neupersischen Reiches der Safawiden zu erwehren, die Habsburger mussten nach dem Frontwechsel Siebenbürgens seit 1604 gegen die Aufstandsbewegung des István Bocskay ankämpfen, mit dem jedoch im Wiener Frieden vom 23. Juni 1606 eine Einigung erzielt werden konnte. Nur wenige Monate später, am 15. November 1606, erreichte der Kaiser erstmals im Friedensschluss an der Zsitvamündung (daher auch Friede von Zsitvatorok genannt), vom Sultan als gleichberechtigter Vertragspartner akzeptiert zu werden.
 
Der Expansionsdrang der Osmanen war damit keineswegs gebrochen. Ein Restaurationsversuch unter den Großwesiren albanischen Ursprungs aus der Familie der Köprülü in der Mitte des 17. Jahrhunderts schuf die Voraussetzungen für eine letzte erfolgreiche Kraftanstrengung des Osmanischen Reiches. Es gelang den türkischen Truppen, in einem 25-jährigen erbitterten Ringen (1645—69) den Venezianern Kreta zu entreißen und bei einem erneuten Einfall in Ungarn 1663 die Festung Neuhäusel an der Neutra zu erobern. Zwar konnte das eilends herangeführte Reichsheer unter Raimund Graf von Montecuccoli in der Schlacht beim Kloster Sankt Gotthard an der Raab (Mogersdorf) am 1. August 1664 den Übergang der türkischen Truppen über die Raab verhindern, im Frieden von Vasvár (Eisenburg) am 10. August 1664 musste sich aber der Kaiser mit einem 20-jährigen Waffenstillstand begnügen und dem Sultan die eroberten Grenzfestungen und die Oberherrschaft über Siebenbürgen belassen. Einen letzten großen Territorialgewinn brachte dem Osmanischen Reich der Polenfeldzug des Jahres 1672 ein. Nach dem Fall der heiß umkämpften Grenzfestung Kamenez-Podolskij musste der polnische König im Vorfrieden von Buczacz am 18. Oktober 1672 in die Abtretung Podoliens einwilligen und die türkische Oberhoheit über das ukrainische Territorium anerkennen.
 
 Die Rückeroberung Ungarns und die »Geburtsstunde der Donaumonarchie«
 
Die Unzufriedenheit über die nachgiebige Türkenpolitik Kaiser Leopolds I. entlud sich in Ungarn ab 1666 in der Magnatenverschwörung, in die höchste Adelskreise verwickelt waren. Die »Wesselényische Verschwörung« nahm 1671 mit der Hinrichtung der Anführer in Wiener Neustadt ein blutiges Ende. Das harte kaiserliche Regiment in Ungarn provozierte 1679 einen erneuten Aufstandsversuch in Ostungarn unter Graf Imre Tököly, der sich mit dem Fürsten von Siebenbürgen verbündet hatte und mit französischer und türkischer Unterstützung rechnen durfte. Großwesir Kara Mustafa Pascha ließ im Verlaufe dieses »Kuruzenkrieges« türkische Truppen gegen Wien aufmarschieren. Diese zweite Türkenbelagerung Wiens endete für die Angreifer aber in einem Fiasko: Am 12. September 1683 kämpfte ein von dem Polenkönig Johann III. Sobieski und Herzog Karl V. Leopold von Lothringen herangeführtes Entsatzheer in der Schlacht am Kahlenberg die kaiserliche Residenzstadt frei. Es folgte die Stunde der Abrechnung. In Oberungarn befahl der kaiserliche Kommandant Antonio Carafa ein hartes Gerichtsverfahren gegen die Anhänger Tökölys (Blutgericht von Eperies 1687). Die Gunst der Stunde nutzend, erreichte der Kaiser vom ungarischen Reichstag in Preßburg die Anerkennung der habsburgischen Erbansprüche auf die Stephanskrone. Das Verhandlungsergebnis von 1687 ist als die »Geburtsurkunde der Donaumonarchie« bezeichnet worden.
 
Zur Fortsetzung des Türkenkrieges fanden sich 1684 der Kaiser, Polen und Venedig unter dem Protektor Papst Innozenz XI. zu einer »Heiligen Liga« zusammen. Ihr trat erstmals 1686 auch Moskau bei, das nach dem großen Kosakenaufstand (1648—54) mit den ostukrainischen Gebietserwerbungen zum Anrainerstaat des osmanischen Machtbereiches geworden war. Während die russischen Truppen unter dem Fürsten Wassilij Wassiljewitsch Golizyn wenig erfolgreich in Südrussland gegen die Krimtataren operierten, drängten kaiserliche Feldherren wie Karl V. Leopold von Lothringen, der 1687 bei Harsány nahe Mohács die Türken besiegte, Markgraf Ludwig Wilhelm I. von Baden-Baden, der berühmte »Türkenlouis«, der bayerische Kurfürst Maximilian II. Emanuel, der 1688 Belgrad erstürmte, und Prinz Eugen von Savoyen-Carignan die Türken ganz aus Ungarn hinaus. In die Peloponnes (Morea) rückten die Venezianer mit den verbündeten toskanischen und päpstlichen Truppen ein und eroberten Koron, Patras, Korinth und Athen. Im Zuge dieser Kriegsereignisse wurde 1687 der Parthenon auf der Akropolis zerstört.
 
Als der Großwesir Fasil Mustafa Pascha 1690 eine überraschende Gegenoffensive in Serbien einleitete und Niš, Smederevo und Belgrad zurückeroberte, wichen die kaiserlichen Truppen über die Save zurück. In ihrem Gefolge flüchteten Tausende Serben unter ihrem Patriarchen von Pećauf südungarisches Territorium. Vor einem erneuten Einbruch der Türken in Ungarn bewahrte den Kaiser die siegreiche Abwehrschlacht des Prinzen Eugen bei Zenta 1697. Im Frieden von Karlowitz (Sremski Karlovci) am 26. Januar 1699 behauptete der Kaiser seine Eroberungen in Ungarn und Siebenbürgen. Er musste aber auf das Temescher Banat und Belgrad verzichten. Polen gewann die südöstliche Provinz Podolien zurück, Venedig wurden die Eroberungen in Dalmatien und auf der Peloponnes zugesprochen. Als 1715 Sultan Ahmed III. vorzeitig den Waffenstillstand aufkündigte, eilte Kaiser Karl VI. den Venezianern zu Hilfe. Im Frieden von Passarowitz vom 21. Juli 1718 gewann Prinz Eugen zwar Belgrad, Nordserbien, das Banat und die Kleine Walachei hinzu, aber Venedig musste die Peloponnes räumen. Nach einem erneuten Waffengang 1735 bis 1739 verzichtete der Kaiser im Frieden von Belgrad am 18. September 1739 wieder auf die weit in den Balkanraum vorgeschobenen Positionen und behielt nur das Temescher Banat.
 
Die Rückeroberung Ungarns hatte an der Türkenfront endgültig die Trendwende eingeleitet. Das Schwergewicht des Habsburgerreiches verlagerte sich in den mittleren Donauraum. Aus der Türkengefahr, die über drei Jahrhunderte das christliche Europa in Atem gehalten hatte, wurde die »Orientalische Frage«. Ihre Lösung sollte sich bis in das 20. Jahrhundert hinziehen.
 
 Der »kranke Mann am Bosporus«
 
Im Streit um das Erbe des »kranken Mannes am Bosporus« wurden unter den christlichen Potentaten Europas erhebliche Interessengegensätze offenkundig. Am nachhaltigsten betroffen war von den Waffenerfolgen der kaiserlichen Truppen Frankreich, das sich nach dem Fall Konstantinopels am frühesten aus der christlichen Solidargemeinschaft verabschiedet und schon im 16. Jahrhundert den Kontakt zum Sultanshof gesucht hatte. Handelsprivilegien im gesamten Osmanischen Reich gaben den beiderseitigen Beziehungen eine feste Grundlage. Die türkische Karte ist seither wiederholt von der französischen Diplomatie ausgespielt worden, um den Kaiser während des Dauerkonflikts des Hauses Bourbon mit den Habsburgern unter Druck zu setzen. Erst die sich abzeichnende weltweite Konfrontation mit Großbritannien in Übersee bereitete den Aufsehen erregenden »Umsturz der Allianzen« im Jahre 1756 vor, der Wien und Paris in der Europapolitik enger zusammenführte. Die unmittelbaren Opfer dieser veränderten Interessenlage waren die bisherigen Verbündeten Frankreichs im Osten, Polen und das Osmanische Reich. 1798 beendete Napoleons Angriff auf Ägypten endgültig das Zusammenspiel mit der Hohen Pforte. Frankreich wurde im Zeitalter der Revolution zum Anwalt der kleinen Völker und unterstützte die zentrifugalen Kräfte im Osmanischen Reich.
 
 Die russische Orientpolitik
 
Zu einer ernsthaften Gefahr für den territorialen Bestand des Osmanischen Reiches sollte im 18. Jahrhundert Russlands Eintritt in das europäische Mächtesystem werden. Die deutschstämmige Usurpatorin des russischen Zarenthrones Katharina II. hat den ihr aufgezwungenen Türkenkrieg von 1768 bis 1774 dazu genutzt, Russland den Zugang zum Schwarzen Meer zu verschaffen. Als die russische Armee im Juni 1774 den Übergang über die Donau erzwang, war der Sultan zum Frieden bereit. Im Friedensvertrag, der am 21. Juli 1774 in Kütschük Kainardschi, dem heutigen bulgarischen Dorf Kajnardscha, unterzeichnet wurde, diktierte Katharina II. die Bedingungen. Sie ließ sich die freie Durchfahrt durch die Meerengen für Handelsschiffe garantieren. Mit der Unabhängigkeit des Krim-Khanats und dem Zugewinn des Küstenstreifens zwischen Bug und Dnjepr sowie der Großen und Kleinen Kabardei im Nordkaukasus schuf sie sich eine günstige Ausgangsposition für künftige Auseinandersetzungen mit dem Sultan. Die Annexion der Krim 1783 und die Erfolge im erneuten Waffengang von 1787 bis 1792 brachten sie dem Ziel ihrer 1782 skizzierten Orientpläne, dem griechischen Projekt, näher. Im Frieden von Jassy dehnte sie 1792 den russischen Anteil an der nördlichen Schwarzmeerküste bis zur Dnjestrmündung aus. Im Frieden von Bukarest, der den russisch- türkischen Krieg von 1806 bis 1812 beendete, setzte ihr Enkel Alexander I. die Abtretung der östlichen Moldau bis zur Pruthgrenze (das ist Bessarabien) durch.
 
Russland beanspruchte seither Protektoratsrechte über die Donaufürstentümer Moldau und Walachei. Deren Territorium diente bei allen künftigen Balkanhändeln als Aufmarschbasis. Das selbstbewusste Auftreten der Diplomaten des Zaren am Sultanshof musste bei den aufstandswilligen Balkanvölkern den Eindruck erwecken, dass russische Interventionstruppen notfalls Gewehr bei Fuß standen. Dieser Sachverhalt brachte im Verlauf des 19. Jahrhunderts die russische Orientpolitik zunehmend ins Zwielicht. Die Diplomaten am Zarenhof luden so nicht selten die Mitschuld an den periodischen Orientkrisen auf sich, die zu verhindern sie nach den Wirren der Französischen Revolution und der Napoleonischen Kriege im Rahmen der europäischen Pentarchie angetreten waren.
 
 Die Frage nach dem Fortbestand des Osmanischen Reiches
 
Eine von den national-revolutionären Bewegungen der kleinen Völker ausgehende Gefährdung des europäischen Gleichgewichts zu vermeiden und drohenden russischen Alleingängen auf dem Balkan durch einvernehmliche Regelungen vorzubeugen, wurde eine Maxime der österreichischen Außenpolitik. Nach den napoleonischen Wirren sah der Staatsmann Klemens Wenzel Fürst von Metternich nicht in hehren Deklarationen wie der »Heiligen Allianz«, auf die sich 1815 die Herrscher der konservativen Ostmächte Russland, Preußen und Österreich eingeschworen hatten, sondern in gemeinsamen Militäraktionen ein geeignetes Instrument, das angeschlagene monarchische System gegen alle subversiven Kräfte zu verteidigen. Er scheiterte an dem grundsätzlichen Dilemma, eine verträgliche Lösung zwischen den Erfordernissen des Gleichgewichts in Europa und den Wünschen der betroffenen Balkanvölker erreichen zu wollen, die auf eine rasche Zerschlagung des Osmanischen Reiches drängten. Gegen die Überzeugungskraft des nationalen Gedankens hatte das metternichsche System keine Überlebenschance mehr. Der österreichische Staatsmann musste in letzter Konsequenz auch das Osmanische Reich als europäischen Ordnungsfaktor anerkennen und den Freiheitswillen der christlichen Balkanvölker ignorieren.
 
Angesichts der unabsehbaren innen- und außenpolitischen Verwicklungen, die bei einer überstürzten Auflösung des Osmanischen Reiches zu erwarten waren, setzten Wien und London verstärkt auf eine Reformfähigkeit des Sultansregimes. Auch die russischen Herrscher des 19. Jahrhunderts gaben der Fortexistenz eines schwachen und von ihrem Wohlwollen abhängigen türkischen Nachbarn vor den immer unkalkulierbareren Risiken weiterer Teilungserfolge den Vorzug. Mit Rücksicht auf seine übergeordneten europäischen Interessen war Alexander I. daher nur zu einer bedingten Zusammenarbeit mit dem Führer des serbischen Aufstandes von 1804 bis 1813 bereit und begnügte sich im Frieden von Bukarest 1812 mit eher vagen Zusagen zugunsten des ehemaligen Verbündeten. Alexander I. ist aus prinzipiellen Erwägungen die Einmischung in den griechischen Freiheitskampf (1821—29) nicht leicht gefallen. Seinen Nachfolger Nikolaus I. haben vornehmlich humanitäre Gründe bewogen, die russische Militärmacht aktiv an der Konfliktlösung zu beteiligen. Eine weltweite philhellenische Bewegung, der sich selbst gekrönte Häupter wie der Griechenfreund auf dem bayerischen Königsthron Ludwig I. aus innerer Überzeugung anschlossen, nahm sich der griechischen Sache an.
 
 Die russische Humanitätsintervention
 
Angesichts der überzogenen Vergeltungsaktionen des Sultans vereinbarte Nikolaus I. im Sankt Petersburger Protokoll vom Frühjahr 1826 eine engere Kooperation mit Großbritannien in der Orientfrage. Sie sah als Fernziel einen freien Hellenenstaat vor und schuf die Voraussetzung für ein gemeinsames Flottenunternehmen in den türkischen Gewässern. Noch vor der offiziellen Kriegserklärung vernichtete ein britisch-russisch-französisches Geschwader am 20. Oktober 1827 in der Bucht von Navarino die türkisch-ägyptische Flotte. Im nachfolgenden russisch-türkischen Krieg drangen die Truppen des Zaren bis in das Vorfeld von Istanbul vor. Auf dem kaukasischen Kriegsschauplatz fiel die wichtige Festung Kars in russische Hand. Im Friedensvertrag von Adrianopel vom 14. September 1829 ließ sich Russland die früher zugesagten Handelsprivilegien für russische Untertanen und die Autonomie Serbiens und der Donaufürstentümer bestätigen, verzichtete aber auf weiter gehende Territorialforderungen. In den Londoner Protokollen von 1829 und 1830 einigte sich der Zar mit Großbritannien auf die künftige Organisation eines freien Griechenland unter der Präsidentschaft des ehemaligen stellvertretenden russischen Außenministers Graf Ioannes Antonios Kapodistrias.
 
Vorrangiges Ziel der russischen Orientpolitik blieb der Schutz der südrussischen Grenzgebiete und die Sicherung der freien Durchfahrt durch die Meerengen. 1833 eilte Zar Nikolaus I. dem von seinem ägyptischen Vasallen Mehmed Ali bedrängten Sultan mit einer russischen Flottendemonstration im Bosporus und der Entsendung eines Truppenkontingents zu Hilfe, was er sich mit Zugeständnissen in der Meerengenfrage wie der Sperrung für fremde Kriegsschiffe honorieren ließ. Die Vermutungen über mögliche weitere Nebenabsprachen nährten in den westlichen Hauptstädten das Misstrauen vor einem russischen Alleingang im Orient. Die britische Presse überschlug sich während der 30er-Jahre in einer russlandfeindlichen Berichterstattung. Nikolaus I. sah sich im September 1833 auf seinem Treffen mit Kaiser Franz II., dem Kronprinzen Wilhelm von Preußen und Metternich im böhmischen Münchengrätz zu einer Kurskorrektur und zum Schulterschluss mit seinen europäischen Verbündeten veranlasst. 1833 verpflichtete sich Russland, bei künftigen Veränderungen des Status quo nach gemeinsamer Absprache mit dem Wiener Hof zu handeln.
 
So konnte wenige Jahre später einvernehmlich die erneute Orientkrise beigelegt werden. Sie wurde wiederum von Mehmed Ali ausgelöst, der die Unterstützung Frankreichs genoss und die Anerkennung seiner Unabhängigkeitserklärung 1838 erzwingen wollte. Am 24. Juni 1838 zerschlug sein Sohn Ibrahim Pascha die osmanische Armee bei Nisib, die ihm den weiteren Vormarsch auf die Sultansresidenz Istanbul verwehren sollte und forderte ein Einschreiten der Großmächte heraus. Ohne Mitwirkung Frankreichs einigten sich im Londoner Juliusvertrag vom 15. Juli 1840 Großbritannien, Preußen, Österreich und Russland auf den Fortbestand des Osmanischen Reiches und stellten dem jugendlichen neuen Sultan Abd ül-Medjid I. eine aktive Hilfe zur Abwehr der ägyptischen Bedrohung in Aussicht. Britische Truppenlandungen zwangen Ibrahim Pascha zum Rückzug aus Syrien. Im Vertrag von Alexandria vom 27. Oktober 1840 gab sich Mehmed Ali mit der Anerkennung seiner erblichen Herrscherrechte in Ägypten zufrieden. Der Weg war frei für eine kollektive Garantieerklärung der europäischen Pentarchie unter Einschluss Frankreichs, die in der zweiten Londoner Konvention vom 13. Juli 1841 niedergelegt war. Sie verbot nichttürkischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch die Meerengen.
 
 Die Tansimatperiode
 
Der britische Außenminister Lord Henry Palmerston hatte sein erklärtes Ziel erreicht, die einseitige Begünstigung Russlands vom Jahre 1833 zu korrigieren und die europäischen Mächte auf eine Stützung des Sultanregimes zu verpflichten. Den christlichen Balkanvölkern war diese Umkehrung der bisherigen Türkenpolitik allerdings nur zuzumuten, wenn sie auf eine Gleichstellung mit den islamischen Untertanen des Sultans rechnen durften. Man drängte daher den erst 16-jährigen neuen Sultan, grundlegende Veränderungen in Staat und Gesellschaft anzukündigen. Jedem Untertan wurde die Sicherheit von Leben, Ehre und Eigentum, der Schutz vor Amtsmissbrauch und die Gleichstellung vor Gericht versprochen. Dieses Reformedikt von Gülhane vom 3. November 1839 eröffnete die Tansimatperiode in der osmanischen Geschichte.
 
Gegen den erbitterten Widerstand der Geistlichkeit und der hohen Bürokratie ließen sich die Reformideen allerdings nur sehr schleppend umsetzen. Besonderen Anstoß erregen musste in einer dem islamischen Recht verpflichteten Gesellschaft die Absicht, Christen zum regulären Waffendienst einzuberufen und das Zeugnis Ungläubiger gegen Muslime vor Gericht zuzulassen. Der Widerstand zwang die Reformer zu Kompromissen, die niemanden zufrieden stellten. Der europäischen Diplomatie bot die ungelöste Orientfrage eine bequeme Handhabe, Interessengegensätze in das östliche Mittelmeer zu verlagern und Hegemonialkämpfe Europas auf fernen Kriegsschauplätzen »weit hinten in der Türkei« (Johann Wolfgang von Goethe) auszufechten.
 
Prof. Dr. Edgar Hösch
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Osmanisches Reich (bis 1683): Geburt und Aufstieg einer Weltmacht
 
osmanische Herrschaft in Südosteuropa: Halbmond über Europa
 
Osmanisches Reich (1683 bis 1856): Vom Niedergang einer Großmacht
 
 
Anderson, Matthew S.: The Eastern question. 1774-1923. A study in international relations. Neudruck London u. a. 1987.
 Baumgart, Winfried: Der Friede von Paris 1856. Studien zum Verhältnis von Kriegführung, Politik und Friedensbewahrung. München u. a. 1972.
 Beer, Adolf: Die orientalische Politik Österreichs seit 1774. Prag u. a. 1883.
 
Der Berliner Kongreß von 1878. Die Politik der Großmächte und die Probleme der Modernisierung in Südosteuropa in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts, herausgegeben von Ralph Melville u. a. Wiesbaden 1982.
 Djordjevic, Dimitrije: Revolutions nationales des peuples balkaniques 1804-1914. Übersetzt von Margita Ristic. Belgrad 1965.
 Eickhoff, Ekkehard: Venedig, Wien und die Osmanen. Umbruch in Südosteuropa 1645-1700. Neuausgabe Stuttgart 21992.
 Hösch, Edgar: Geschichte der Balkanländer von der Frühzeit bis zur Gegenwart. München 31995.
 Jelavich, Charles / Jelavich, Barbara: The establishment of the Balkan national states 1804-1920. Seattle, Wash., 21993.
 Matuz, Josef: Das Osmanische Reich. Grundlinien seiner Geschichte. Darmstadt 31994. Nachdruck Darmstadt 1996.
 Schulze, Winfried: Reich und Türkengefahr im späten 16. Jahrhundert. München 1978.
 
Die Staaten Südosteuropas und die Osmanen, herausgegeben von Hans Georg Majer. München 1989.
 Sugar, Peter F.: Southeastern Europe under Ottoman rule, 1354-1804. Neudruck Seattle, Wash., u. a. 1993.
 Zinkeisen, Johann Wilhelm: Geschichte des osmanischen Reiches in Europa. 7 Bände und Registerband Hamburg u. a. 1840-63.

Universal-Lexikon. 2012.

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